Sarah Kirsch - Ihr Skeptischer Glaube

Sarah Kirsch ist von Kritikern wie Wayne Kvam "eine der begabtesten Lyrikerinnen, die auf Deutsch schreiben" gennant worden1. Leser, die zum ersten Mal Kirschs Gedichte lesen, müssen daran denken, dass sie zwanzig Jahre ihres Lebens in einem totalitären Staat verbracht hat. Obwohl sie mit vielen der politischen und gesellschaftlichen Ziele der DDR Regierung übereinstimmte, akzeptierte sie den offiziell propagierten "sozialistischen Realismus" der DDR Regierung, der die Ästhetik bestimmte, nie vollkommen. Sie floh 1977 nach West Berlin. Zwei Gedichte, die typisch für Kirschs Arbeiten sind, sind "Von Meinem Haus", veröffentlicht in Gespräch mit dem Saurier (1965),3 und "Die Wiese", veröffentlicht in Drachensteigen (1979).4 Wenn man ein Gedicht, das Kirsch in der DDR schrieb, mit einem Gedicht, das Kirsch im Westen schrieb, vergleicht und gegenüberstellt, wird enthüllt wie die starke Gegenwart einer sozialistischen Regierung einen Eindruck auf ihr Leben und Schreiben haben wird.

"Von Meinem Haus" ist ein Gedicht mit drei Strophen über künstlerische Freiheit.

Ich sage: du bist der große Wind
du bläst mir Kummer ins Gesicht
Du sagst: es ist kein Sturm
nur eine kleine warme Brise

Aber ich sehe von meinem Haus
das Dach segeln wie seidengrauen Rauch
die Bücher probiern ihre Flügel
nichts bleibt verschont, Klavierkonzerte
machen sich auf schwarzen Tellern davon, die
Fenster schliessen nie mehr. Wo
soll ich wohnen fürderhin?

Ich sage: mir ist alles davongeflogen
Du sagst: da ist kein Sturm
Ich sage: der Wind ist so groß, daß Zigaretten
verbrannt sind, eh sie den Mund erreichen
Und hält man einen Federhalter in der Hand
bohrt er sich in den Tisch.

Das Gedicht besteht aus einem Dialog zwischen einem "Ich" und "Du", wobei das Du die offizielle Propaganda der DDR-Regierung repräsentiert. Das "Du" sagt, daß das Leben unter einer sozialistischen Regierung wunderbar ist; Kirsch dagegen sagt, daß es viele Probleme unter dieser Regierung gibt. Aber Kirsch sagt es nicht direkt. Wie auch in anderen Gedichten benutzt sie die Natur als eine Metapher für Themen des Lebens und der Politik. Hier repräsentiert "der große Wind" die sozialistische Regierung in der DDR (die Deutsche Demokratische Republik), die "bläst mir Kummer ins Gesicht" oder die versucht zu kontrollieren, was und wie Kirsch schreibt. "Der große Wind" bringt Bilder der Macht hervor. Er kontrolliert das Leben der Bewohner. Wenn man die Zeile "bläst mir ins Kummer ins Gesicht" liest, sieht man das Bild einer Hand, die Kirschs Mund bedeckt und ihre Atmung einschränkt. Die Regierung erzählt Kirsch und den anderen Bewohnern dauernd, daß es "nur eine kleine warme Brise" ist und daß alles gut ist. Es wird keine Probleme geben. Eine Brise ist das perfekte Bild fur die Regierung. Eine Brise ist keine Drohung. Eine warme Brise besänftiget und tröstet. Aber Kirsch wird von der Regierung nicht besänftigt. Das Gedicht hat Ähnlichkeiten mit einer Konversation zwischen zwei Leuten, aber hier ist die zweite Person eine offizielle Stimme der Regierung. Sie ist nicht fähig oder bereit, Kirschs Fragen direkt zu beantworten.

In der zweiten Strophe spricht Kirsch über ihr Haus. Sie hat keine Freiheit zu tun, was sie möchte. Aber dann bedeutet "Aber ich sehe von meinem Haus / das Dach segeln wie siedengrauen Rauch," daß das sozialistische System geprüft und herausgefordert wird. Das System kann nicht kontollieren, was geschieht. Das Haus sollte sicher und beständig wie das sozialistische System selbst sein. Aber dann bricht das Dach, das als Trennwand zwischen den Leuten und der Regierung wirkt, zusammen. Die Leute wollen neue Dinge versuchen. Sie wollen neue Erlebnisse haben. Sie haben das Dach gesprengt, das sie beschränkt. Jetzt haben die Schriftsteller und die Musiker die Macht, ihre Regierung durch ihre Bücher und ihre Musik zu kritisieren: "die Bücher probiern ihre Flügel" und "Klavierkonzerte machen sich auf schwarzen Tellern davon." Hoffentlich werden ihre Bücher und Musik ein großes Publikum bekommen. Sie sind dem beschränkten Haus des sozialistischen Realismus entgangen. Sie sind gewillt, die notwendigen Risiken auf sich zu nehmen, die Grundsätze des sozialistischen Realismus herauszufordern. Kirsch fragt, "Wo soll ich wohnen fürderhin?" Dieses ist eines der frühen Gedichte Kirschs, und es spiegelt ihre Probleme und Angelegenheiten mit der DDR-Regierung wieder. Sollte sie die literarischen Ideen des sozialistischen Realismus anzweifeln? Sollte sie die politischen und sozialistischen Ziele der DDR anzweifeln? Während der sechziger Jahre begannen auch andere Dichter (Volker Braun, Karl Mickel, Rainer Kirsch, Bernd Jentzsch, und Rainer Kunze) die politische Didaktik, die die DDR-Literatur während der vorhergehenden Dekade charakterisierte, zu bekämpfen, wie Kvam festgestellt hat.5 Obwohl Kirsch sich später der Kritik dieser Schriftsteller anschloß, und eine neue kritische Haltung gegenüber ihrem eigenen Land forderte, ist sie sich in diesem Gedicht in ihrer Rolle als Schriftstellerin noch unsicher. Wird sie für ihr Land schreiben oder wird sie die Fehler in der Regierung kritisieren?

Die letzte Stophe beginnt mit Kirschs Klage an ihren Gesprächspartner: "mir ist alles davongeflogen." Sie will eine Antwort, warum diese Schriftsteller jetzt die Regierung kritisieren. Was ist mit dem sozialistischen System passiert, an das sie glaubte? Aber die einzige Antwort der Regierung ist: "da ist kein Sturm." Es gibt keine Probleme. Es gibt nur eine warme Brise in der Luft. Aber Kirsch weiß, daß es Probleme gibt. Sie weiß, daß der große Wind noch stark ist. "Ich sage: der Wind ist so groß, daß Zigaretten / verbrannt sind, eh sie den Mund erreichen." Die Zigaretten repräsentieren die Freiheit zu tun, was man will. Kirsch hat das Gefühl, daß sie nichts tun kann ohne die Billigung der Regierung. "Und hält man einen Federhalter in der Hand / bohrt er sich in den Tisch." Sie kann nicht schreiben, was sie will, in dieser geschlossenen Gesellschaft. Offiziell sollte Literatur die Ziele der sozialistischen Regierung unterstützen, aber es gibt zu viele Einschränkungen von der Regierung auf diesem Gebiet. Die Hand bohrt den Federhalter in den Tisch, weil sie nur das schreiben kann, was die Regierung sagt. Kirsch kann nicht schreiben, was sie will. Die Regierung will, daß sie eine Wortführerin für den Sozialismus ist. Sie bedauert, daß die Regierung ihr nicht zutraut, an das Gute der Gesellschaft zu denken.

Die Natur dient auch als Metapher für die politische Regierung in Kirschs Gedicht "Die Wiese", das zuerst 1979 veröffentlicht wurde. Dies ist ihre erste Gedichtsammlung geschrieben, nachdem sie in den Westen floh.

Der scirocco bewirft mich mit Ästen und Zapfen,
Kröten springen mir ins Hemd. Ich sehe mich
hinter olivgrünen Fenstern von Zwiebeln umgeben,
ich liege auf der Gartenmauer, da hör ich sie
gehen und fahren und leben. Die Wiese durchwächst
mich in sieben Stunden. Ich stehe mit jedem Fuß
in einem anderen Brunnen und schlage mir das Glück
aus dem Kopf.

"Die Wiese" ist ein Gedicht, das die Lebensumstände behandelt, denen Kirsch gegenübersteht, als sie aus der DDR in den Westen flieht. Dieses Gedicht wurde wahrscheinlich in Italien geschrieben. Ein paar Monate lebte Kirsch in Italien, nachdem sie nach West-Deutschland geflohen war. "Der scirocco bewirft mich mit Ästen und Zapfen" zeigt, daß Kirsch von dem Komfort und Luxus des kapitalistischen Systems verlockt wird. Der scirocco, wie der große Wind, repräsentiert ein Regierungssystem. Äste und Zapfen sind Teile des Baums und der Regierung. Sie repräsentieren die neuen Leute (vielleicht Buchverleger), mit denen sie Kontakt haben wird. Sie heißen sie mit offenen Armen willkommen. Die Zeile "die Kröten springen mir ins Hemd," repräsentiert die materiallen Fallen, die sich jeden Tag vor ihr auftun. Es ist interessant, daß Kirsch das Wort "Kröten" benutzt, das ein umgangsprachliches Wort für Geld ist. Das kapitalistische System kümmert sich nur um Geld. Dies ist ein Gedicht der Veränderung und behandelt Kirschs Eindruck, wie das neue System funktioniert. Es ist eine interessante Veränderung für Kirsch. Unter einer sozialistischen Regierung wird geglaubt, daß die Leute alle ihre Energie der Gesellschaft beisteuern müssen, um das Gute in den Menschen zu fördern. Als Kirsch sagt, "ich liege auf der Gartenmauer, da hör ich sie gehen und fahren und leben," reagiert sie auf die Tatsache, daß die Leute im Westen tun, was sie wollen. Sie sind frei, ihre eigene Entscheidungen zu treffen. Kirsch kannte diese freien Entscheidigungen in der DDR nicht. "Die Wiese durchwächst mich in sieben Stunden" symbolisiert die Tatsache, daß sie sich mit jedem Tag, der vorbei geht, ihrem neuen Leben anpaßt. Aber die wichtigste Feststellung kommt am Ende des Gedichtes, als sie sagt, "Ich stehe mit jedem Fuß in einem anderen Brunnen und schlage mir das Glück aus dem Kopf." Während sie sich dem Komfort des Westens anpaßt, bringt sie noch einen Teil Ost- Deutschlands mit sich. Es ist sehr interessant, daß Kirsch einen Brunnen wählt. Das Wasser in einem Brunnen ist der Ursprung des Lebens. Die DDR ist Kirschs Heimat. Es ist ihr Ursprung, und es ist sehr schwer, ihn zu verlassen. Der Brunnen könnte aber auch mehr symbolisieren. Meistens sind die Brunnen, besonders in Italien, schöne Kunstwerke, und sie repräsentieren eine ästhetische Tradition. Kirsch ist heimatlos im doppelten Sinne: nicht nur hat sie die DDR verlassen müssen, sondern sie steht auch zwischen den Kulturen. Sie muß sich "das Glück aus dem Kopf" schlagen, weil sie von vergangenen Erlebnissen weiß, daß es Probleme geben wird. Probleme gab es in der DDR, und deswegen wartet sie darauf, daß Probleme in der BRD auftauchen werden. Wenn die Ideen des Sozialismus in der DDR nicht funktionieren, werden sie auch im Westen nicht funktionieren, wo der Kapitalismus eher das Schlechte in den Menschen hervorbringt. Wenn Sozialismus nicht das Gute in den Menschen hervorbringen kann, kann es kein politisches System. Kirsch hat in beiden Systemen gelebt. Sie hat keine Angst, weil sie das sozialistische System bekämpft hat, aber sie weiß, daß die Dinge im Westen nicht besser sein werden. "In der Bundesrepublik habe ich immer noch voll zu tun - es sind dort sehr viele Bücher von mir gekauft worden. Aber ich habe auch keine Angst, daß es mal schlechter gehen wird" wie die van Stekelenburgs festgestellt haben.6 Während Kirsch die Regierung der DDR und die Ideen des sozialistischen Realismus kritisiert, wird ihr ostdeutscher Ursprung ihr Leben in West-Deutschland beeinflussen. Sie wird immer skeptisch der westdeutschen Kultur gegenüber sein.

Es ist in Sarah Kirschs Gedichten "Von Meinem Haus" und "Die Wiese" offensichtlich, daß die sozialistische Regierung der DDR immer einen Einfluß auf Kirschs Arbeiten haben wird. Aber nach den Änderungen in Kirschs Leben besteht sie darauf, daß sie eine deutsche Schriftstellerin ist, nicht eine ost- oder westdeutsche.

Ich empfinde mich als einen deutschsprachigen Schriftsteller, weiter nichts. Es ist nicht so, daß ich mich nun mein Leben lang als DDR-Dichter fuhle. Ich habe dem Land eine Menge zu verdanken, das Land hat mich auch irgendwie gepragt, aber es hat mich auch fortgebracht. Ich sehe das alles nicht so tragisch. Ich bin nicht traurig, daß ich nicht mehr dort lebe.

Während Kirsch ihr Leben fortsetzt, haben ihr die vielen Jahre in der DDR eine skeptische Einstellung gegenüber vielen Dingen gegeben, besonders gegenüber Liebe und Politik. Sie hat keinen Erfolg in ihrer Suche nach einer befriedigenden Vereinigung eines politischen Systems und persönlichen Beziehungen und der Natur, wie Kvam festgestellt hat.8 Ihr skeptischer Glaube wird immer einen Platz in Kirschs Arbeiten haben. Er ist ein Teil ihrer Persönlichkeit.


BIBLIOGRAPHIE

  1. Kirsch, Sarah. Drachensteigen. Ebenhausen: Langewiesche-Brandt, 1979.

  2. Kirsch, Sarah. Gespräch mit dem Saurier: Gedichte von Sarah und Rainer Kirsch. Berlin: Verlag Neues Leben, 1965.

  3. Kvam, Wayne. Conjurations: The Poems of Sarah Kirsch. Athens: Ohio University Press, 1983.

  4. van Stekelenburg, Hans Ester und Dick van Stekelenburg. Hundert Gedichte. Ebenhausen: Langewiesche-Brandt, 1995.